Ist "Karriere" in der heutigen Welt noch attraktiv?
WiWi Gast schrieb am 28.01.2022:
Was mir bei dem Thema vor allem negativ auffällt (neben den ganzen Gehalts- und Statusdiskussionen die ich auch Teile), ist dass zumindest mein Arbeitgeber sich nicht mehr festlegen will und die Entscheidung über Karriere immer weiter nach hinten schiebt. Und ich habe ähnliches von Kommilitonen bei anderen Firmen gehört.
Ich bin bei einem DAX-Konzern, bin mit einem sehr guten Studium eingestiegen und es läuft auch intern sehr gut. Ich bekomme sehr gute Bewertungen, werde als High Potential geführt und bin in einem internen Förderprogramm. Mein Mentor war vor 18 Jahren am gleichen Punkt. Damals hieß das, dass er noch ein Assessmentcenter durchlaufen hat und nach erfolgreichem Absolvieren dieses ACs feststand, dass er zum Abteilungsleiter entwickelt wird. Das war natürlich auch kein Selbstläufer, aber man wurde mit einem Fokus auf die persönliche Entwicklung auf ca. 2 bis 4 Positionen gesetzt um danach dann die erste Abteilung zu übernehmen. Natürlich nur wenn man die in einen gesetzten Erwartungen erfüllte, aber das schafften ca. 90 %, die Leute wurden ja aufwendig ausgewählt.
Das alles gibt es für mich so nicht mehr. Ich bekomme zwar ein paar Schulungen und Coachings, aber darüber hinaus keinerlei Zusage oder ähnliches. Im Endeffekt heißt es nur noch, dass man mir zutraut AL zu werden, aber nicht, dass ich gezielt dahin entwickelt werde.
Ich muss mich ganz normal auf Stellen bewerben und werde nicht mehr mit dem Entwicklungsfokus einfach drauf gesetzt. Und es ist auch nicht mehr so, dass ich quasi nur dann nicht AL werde wenn ich die Erwartungen in mich nicht erfülle, sondern dass ich um jede Stufe auf dem Weg dahin kämpfen muss. Ich hätte das vorher selbst nicht gedacht, aber das macht psychisch einen riesen Unterschied.Viel dieser Entwicklung kommt glaube ich daher, dass die Firma eine panische Angst davor hat, dass sich irgendjemand unfair behandelt oder diskriminiert fühlen könnte. Gerade weil diese Entwicklungspfade eben auch hießen, dass man für die persönliche Entwicklung auf eine Stelle gesetzt wurde, für die man vielleicht nicht die beste Wahl war, die aber wichtig war um zu lernen. Mein Mentor wurde bspw. Key Account Manager, obwohl er vorher nie Kundenkontakt hatte und es sicherlich junior Key Accounter gab, die besser geeignet gewesen wären. Aber er sollte halt Erfahrung im Kundenkontakt sammeln.
Dadurch dass man das nicht mehr macht, lässt man jetzt viel mehr Leute im Glauben, sie könnten es bis zum Abteilungsleiter schaffen, obwohl es eigentlich viel weniger Stellen gibt als früher. Ob das so sinnvoll ist weiß ich nicht. Erstmal motiviert man mit der Aussicht vielleicht ein paar mehr, wenn man dann aber realisiert dass es trotz der Anstrengung nicht klappen wird, frustriert man glaube ich noch stärker. Also zumindest bei mir sehe ich die Gefahr einer innerlichen Kündigung oder Dienst nach Vorschrift viel höher, wenn man mich 10, 15 Jahre lang einer Karotte (AL) hinterherlaufen lässt und sie mir dann wegzieht, als wenn man mir recht früh gesagt hätte, dass ich diese Karotte wohl nicht kriegen werde, und meine Karotte der Teamleiter oder Gruppenleiter oder was auch immer ist. Geplatzt Träume demotivieren mehr als nie geträumte Träume.
15 Jahre auf ne AL Stelle warten? 2-4 Positionen bevor man erste Führungsverantwortung bekommt?
Wenn du mit 25 im Beruf einsteigst (Master / Diplom), bist du 15 Jahre später 40.
Wenn du da nicht bereits AL bist, wirst du das zu 99.99% im Leben nicht mehr.
Sieh dir doch mal die Führungsriege in deinem Unternehmen an. Sind die Vorstände und Top Level Management Leute Mitte 40, Mitte 50 oder Mitte 60?
Mit Mitte 60 bzw. 65 erreichst du bei fast allen Top Konzernen die Altersgrenze für Vorstände! Der durchschnittliche Vorstand im DAX ist ca. 53.
Wenn aber erst mit Mitte 40 AL wirst, wie willst du 13 Jahre später auf einem Vorstandsposten sitzen?
Also bei meinem Konzern (DAX30, ~300k MA, 90 Mrd. Umsatz) sind es vom AL (in meinem Fall 150 Headcount, darunter 3 Gruppenleiter, darunter nochmal ~15 Teamleiter) noch 6 Stufen bis zum Vorstand, 7 zum CEO.
Wenn man Karriere machen will, und das ist für mich bei einem DAX30/40 ab der Stufe Werksleiter, BU Leiter oder zumindest Global Head of xy oder höher, dann wartet man nicht dass man mit 40 seine erste Führungsposition bekommt.
Da heißt es mit Ende 20 mind. Teamleiter, mit Anfang 30 Gruppenleiter, Mitte, aller spätestens Ende 30 Abteilungsleiter. Aber besser noch schon mit Anfang 30.
Wenn du bis 40 keine Führungsverantwortung hattest, wird keiner auf die Idee kommen zu sagen "Ah, der Herr Müller hat mal vor 15 Jahren ein AC gemacht und als Absolvent als Hipo eingestuft, dem geben wir jetzt mal die Leitung der HR/Marketing/Finance/R&D etc pp Abteilung". Da bleibst du Sachbearbeiter, ganz einfach.
Wenn du diese Zusammenhänge nicht erkennst, dann fehlt dir ohnehin der strategische Blick fürs Management und du wirst eh keine (Führungs-)Karriere machen.
Wie gesagt, schau dir die Führungskräfte in deinem Konzern an. Die sind sicher nicht alle 40+, sondern mit Sicherheit sind bis zu 50% der FK unter 40 und einige unter 30.
Auch einfach aus dem Grund, weil die unterer FK Ebenen breiter aufgestellt sind, ins Top Management wirds ja dann eng, Pyramide und so. Und viele AL / BU Leiter etc verlassen die Konzerne dann manchmal um dann einen Top Posten (z. B. GF oder CEO) bei einem Mittelständler oder anzutreten.