Lounge Gast schrieb:
Das wichtigste Indiz, nämlich nach der tatsächlichen
Belastbarkeit des Bewerbers für den angestrebten Beruf ist
ganz weggefallen. Die Diplom-Studiengänge waren einfach einen
Tick härter und wer es da dann noch geschafft hat, etwas
nebenbei zu leisten, etwa das Praktikum, der hatte schon den
Vorbeweis erbracht, belastbar sein zu können.
Ich halte diese Denkweise für falsch. Masterstudenten, die Nebenbei als Werkstudent arbeiten und ihre Masterarbeit nebenbei machen sind nicht weniger belastbar als Diplomer.
Damit schließt sich der Kreis jetzt wieder und die
weggefallenen Trainee und Junior Stellen kommen ins Spiel.
Diese müssten jetzt nicht nur ihren gesellschaftlich und
sozialen Zweck erfüllen, junge Leute in den Job zu bringen,
sondern als verlängertes Bewerbungsverfahren, bei dem man
jetzt mal die Chance hat auszusortieren. Ich bleibe dabei, es
ist kriminell Kurzsichtig diese Stellen nicht wieder
aufzubauen, sie müssten in ihrer Funktion sogar erweitert
werden.
Junge WiWis bringen auch noch ein ganz anderes Problem mit:
Sie, gerade Männer, kommen oft mit erschreckend
Wert-konservativen Einstellungen und Zielen daher. da spricht
ja nichts dagegen, es beeinflusst nur ihre
Gehaltsvorstellungen in einem Maße, das schon bizarr ist.
Welche Gehaltsvorstellungen werden euch denn präsentiert? Wer ausgezeichnete Leute haben will, muss diese auch ausgezeichnet bezahlen. Wenn ein Unternehmen erfolgreich ist, dann ist es auch in der Lage einem Junior 40 k nach dem Bachelor/Master zu zahlen. Es gibt nicht wenige, die sogar mehr zahlen. Wenn ein Unternehmen mit einem Angebot von 33 k im Jahr daherkommt, frage ich mich als Bewerber schon, ob es generell (unabhängig vom Gehalt) das richtige Unternehmen ist und ich nicht vielmehr befürchten muss, dass es entweder in den nächsten 3 Jahren insolvent ist oder die Geschäftsführer davon leben, dass ihre Mitarbeiter weniger als der Schnitt verdienen und nicht weil sie ein innovatives Produkt haben.
Wir musste diese Erfahrung tatsächlich mehrmals machen.
Gerade was die Punkte Aufnahmebereitschaft, selbstständiges
Handeln und, wie Oben erwähnt, Belastbarkeit angeht, hatten
sich einige Junioren als "Mogelpackung" erwiesen,
bei denen Noten und Zeugnisse so gar nicht mit der
eigentlichen Leistungsfähigkeit übereinstimmen.
Nimm als Beispiel meinen letzten Junior: BA BWL mit
Schwerpunkt Energiewirtschaft, zwei Praktika in dem Sektor.
Schnitt: 1,8.
Wir hatten sie auf leichte analytische und Customizing
Aufgaben angesetzt, die sie eigentlich können sollte, mit dem
Hinweis bei Fragen einfach zu Fragen, dazu ist man ja als
Senior da. Nichts kam. Sie hat sich an den Aufgaben
festgebissen, ohne Fragen zu stellen, ohne Handbücher, FAQs
oder How-Tos zu konsultieren, wurde immer frustrierter und
patziger und hat dann, nachdem sie sechs Wochen für ihre
erste Aufgabe gebraucht hat, hingeschmissen.
Noten und Zeugnisse spiegeln fast NIE die echte Leistungsfähigkeit wider, schon gar nicht zeigen sie, wie belastbar jemand im Arbeitsalltag ist. Noten sind nicht mehr als ein Indiz von etwa 5 weiteren, das m.E. auch nur mit 1/6 gewichtet werden sollte. Ich verstehs nicht. Alle sagen mir, Noten hätten keine Aussagekraft mehr. Dennoch werden Noten noch extrem stark gewichtet. Das ist auch grotesk.
Wenn ihr solche Erfahrungen schon häufiger gemacht habt, läuft etwas bei eurem Recruiting schief. Es ist einfach, auf die Hochschulen zu schimpfen. Wie wäre es mal damit, den eignen Recruiting-Prozess komplett zu überdenken. Die Unternehmen laden m.E. viel zu wenige zu sich ins Unternehmen für ein persönliches Gespräch. Ich würde ALLE einladen, die vom Gesamteindruck grds. passen könnten. Harte Ausschlusskriterien, z.B. "alle schlechter als 2,5 laden wir gar nicht erst ein" würde ich in meinem Unternehmen nicht zulassen. Ich würde mich auch nicht darauf beschränken, nur 15 Kandidaten einzuladen, sondern min. 50. Ja, das ist teuer und kostet viel Zeit, ist aber unter dem Strich günstiger als permanent erst in der Probezeit zu merken, dass man den falschen genommen hat und den ganzen Prozess neu zu starten.
Die von dir beschriebenen Erfahrungen sind m.E. von den Unternehmen selbst verschuldet. Ich wette, ihr habt der Dame ein standardmäßiges VG geliefert auf das man sich 100% vorbereiten kann und sich mit ein bisschen Übung so präsentieren kann, wie das Unternehmen einen haben will und nicht wie man tatsächlich ist. Ihr sucht doch keine Schauspieler. Ich würde als Unternehmer die Anreize, sich als Schauspieler präsentieren zu können (und teilweise müssen), komplett beseitigen. D.h. weg mit Speed-Dating-Atmosphäre, dem durchgetakteten Ablauf und dem Stellen von Fragen, deren Antwort rein gar nichts aussagt, egal was die Recruiter aus den Antworten lesen (wollen). Das finde ich nämlich auch teilweise grotesk, was Recruiter in Antworten teilweise hineininterpretieren. Ist die Antwort zufriedenstellend, weiß der Personaler doch noch lange nicht ob sich der Kandidat bestens auf die Frage vorbereitet hat oder ob er ehrlich geantwortet hat. Ich hatte bei meinen ganzen VG nur ein einziges!, das ich als Gespräch (d.h. Dialog bzw. Unterhaltung) gelten lasse. Mein Rat: Kein Verhör starten, sondern sich in einem offenen Gespräch in 60 min. einen möglichst realistischen Eindruck verschaffen und nicht zu viel hineininterpretieren. Dann klappt es auch mit der Auswahl.
Noch ein Rat. Wenn bekannt ist, dass ein Unternehmen unterdurchschnittlich zahlt, dann werden faktisch fast alle Bewerber auch unterdurchschnittlich sein. Wenn sich ein 1er Kandidat auf eine 33k Stelle bewirbt, ist das bereits ein heftiges Indiz dafür, dass tatsächliche Leistung und Studienleistung auseinanderdrifften. Dann lieber gleich absagen und es mal mit den ebenfalls guten 2er Kandidaten mit einem ehrlichen Gespräch versuchen.
antworten