Ich habe bei einer Big4 angefangen und bin dann nach dem Examen in eine mittelständige WPG gewechselt (knapp 30 MA) und war dann entsprechend in die Ausbildung der Assistenten involviert, daher das Ganze mal aus meiner Perspektive.
Zumindest bei meiner WPG waren die Arbeitszeiten im Vergleich zu den Big4 deutlich entspannter. Von unseren Assistenten wurden keine Überstunden erwartet, geschweige denn Wochenendarbeit. Es gab auch genug Assistenten, die wirklich nie Überstunden gesammelt hatten. Falls es mal doch zu Überstunden kam, hatten wir ein recht faires Überstundenmodell (nach dem Prinzip bitte erst frei nehmen und wenn noch was über ist ausbezahlen lassen). Das Thema Überstunden ja oder nein und der Umgang mit diesen lässt sich aber für den KMU Bereich sicher nicht pauschal so beantworten, das kommt dann doch stark auf die WPG und die dort vorherrschende Kultur an.
Wo hingegen sich eine pauschale Aussage treffen lässt ist das Thema generalistisches Arbeiten. In der kleineren WPG war es den Einsteigern möglich einen größeren Umfang an Mandanten und Tätigkeiten durchzuführen, auch das Arbeiten in einer anderen "Service Line" war wirklich ohne Probleme möglich. Zumindest zu meiner Big4-Zeit war das ein gefühltes Ding der Unmöglichkeit, mal für ein Projekt in einer anderen Service Line reinzuschnuppern (wenn dann mal von Audit ins Tax und umgekehrt, Mitarbeit in Advisory Teams evtl. auch noch aber zB mal bei einem Sanierungs- oder sonstigem CF-Projekt war zu meiner Zeit verdammt schwer. Vielleicht hat sich das jetzt geändert).
Sofern man möchte kann man in der kleineren WPG auch schnell Verantwortung übernehmen oder auch der Geschäftsleitung bei anderen Themen wie zB bei einem Pitch oder dem Recruiting zuarbeiten (wird aber auch stark von der WPG abhängen) und aufgrund des Umstandes dass die Mandate kleiner sind, hat man dort auch schneller mit den Entscheidungsträgern des jeweiligen Unternehmens zu tun (kann dir aber auch im Umkehrschluss passieren, dass man einen GF erwischt, der quasi nur mit dem WP reden will und sonst mit niemanden, habe ich persönlich aber nie erlebt).
Also je nach Präferenz würde ich sagen, was die Arbeitszeiten und die Tätigkeiten angeht sollte eine KMU-WPG die Nase vorn haben. Aber wo die Big4 mE einfach nicht zu schlagen sind, ist das Thema Ausbildung und Mandatsstruktur. Die Mitarbeiterausbildung bei kleinen WPGs ist zum einen stark von den dort arbeitenden WPs abgängig aber ganz sicher nicht so institutionalisiert wie bei einer Big4. Was insbesondere in den ersten beiden Jahren an Schulungen in dich investiert ist, lässt jede kleine WPG einfach alt aussehen. Neben dem fachlichen Aspekt, waren zumindest zu meiner Zeit, diese Schulungen auch mit einigen denkwürdigen Abenden verbunden und natürlich auch vom Netzwerkgedanken nicht zu verachten. Man kannte gefühlt irgendjemanden in einer der zahlreichen Abteilungen ich hab dort auch zB Freundschaften fürs Leben geschlossen (zumindest bin ich nach knapp 10 Jahren mit einigen damaligen Kollegen immer noch eng befreundet). Ich zähle mal den Punkt Examensförderung ebenfalls zum Thema "Ausbildung". Neben dem monetären Aspekt bieten die Big 4 dir einfach nochmal mehr Möglichkeiten wie zB die Masterstudiengänge in Mannheim und FFM etc. Da wird es sicherlich auch KMU-WPGs geben, welche hier und da mal so etwas unterstützen, aber das ist (zumindest vom Ablauf) her noch keine Selbstverständlichkeit wie es bei den großen vier der Fall sein wird.
Nächster Punkt bei den Big4 ist sicherlich die Mandatsstruktur. Die Arbeit auf einem Großmandat ist einfach nicht vergleichbar mit dem Einsatz beim regionalen Mittelständler (soll keine geringere Wertschätzung bedeuten, bitte nicht falsch verstehen). Man wird zwar relativ schnell spezialisiert und wenn man Pech hat, kann es auch sein, schwer von so einem Mandat wegzukommen, aber die Probleme und Herausforderungen die man dort erlebt sind mE nicht vergleichbar. Bei Unternehmen dieser Größe ist idR das Verständis für Prozesse und daraus resultierend auch Prozessprüfungen oft auch essentieller. Die Notwendigkeit von Prozessaufnahmen ergibt sich bei kleineren Unternehmen idR nur aufgrund (berufsrechtlicher) Vorgaben und weniger aus einer Notwendigkeit heraus. Kann jetzt auch ein Pluspunkt für die kleinen sein, aber bei der Ausbildung habe ich einfach gemerkt, wie schwer es den Assistenten war, so abstrakt und ohne Notwendigkeit das Thema Prozesse und Prozessprüfung zu verstehen. Bei so großen Mandaten bzw. bei den Big4 generell ist das Thema Internationalität auch nicht zu verachten. Ich war insbesondere in meinen ersten beiden Jahren tatsächlich auch in einigen mega Standorten wie London und New York eingesetzt und hatte auch viele Kollegen (zugegeben aber dann nicht mehr als Assistent sondern eher als Jung-WP) die auf diversen Projekten im Ausland waren. Auslandseinsätze bei einer kleinen WPG wird es sehr sehr selten geben und wenn dann kann diese auch schnell eher zu Chefsache mutieren.
Zusammengefasst gibt es einfach Punkte die jeweils für den Einstieg sprechen, ich denke es ist auch ein wenig von der persönlichen Präferenz und auch Lebenssituation abhängig. Ich hatte aber immer gesagt mein idealer Assistent hat bei den Big4 angefangen und ist dann zur kleineren WPG gewechselt, weil er die Vorteile zu schätzen wusste :-)
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