Vllt. geht es dem ein oder anderen hier ähnlich wie mir. Bin jetzt 2 jahre im beruf (audit big 4) und nach ca. 1 jahr hat sich doch schon die ernüchterung breitgemacht. ernüchterung in dem sinne, dass man sich das ganze etwas anders vorgestellt hat.
man macht sich im vorfeld ja gedanken, wie man sich den zukünftigen beruf vorstellt und ja... wie soll ich sagen? ich hätte ihn mir zum einen anspruchsvoller vorgestellt und zum anderen auch einfach spannender.

wenn man dann voller tatendrang in den beruf startet, glaubt man spannende projekte miterleben zu dürfen, strategien entwickeln zu dürfen, naja sich irgendwie ''gebraucht'' vorzukommen. gebraucht in dem sinne, dass einem seine tätigkeit irgendwie sinnvoll erscheint. stattdessen besteht der triste alltag aus den immer selben abläufen, routine prüfungen, recherche arbeiten etc.

also klar, mir ist bewusst, dass ich erst 2 jahre dabei bin und da evtl. nicht so ein urteil fällen kann, da mir noch die praxis fehlt. aber schauen wir uns mal querbet andere berufsgruppen an mit einer simplen betrachtung (kenne halt einige, mit denen ich gesprochen hab und sinngemäß haben die ähnliches erzählt) :

polizist
vorstellung: spannende kriminalfälle lösen
realität: strafzettel verteilen, allg. verkehrskontrollen, nachbarschaftsstreitigkeiten schlichten, weil ein grashalm in den garten des anderen ragt

anwalt:
vorstellung: auch hier spannende fälle lösen, die individuelles denken und problemlösen erfordern
realität: man wird ziemlich schnell in eine niesche gepackt, um die ständig selben fälle nach schema f zu behandeln.

arzt:
vorstellung: menschen helfen. alles dafür geben, dass jemand gesund wird etc.
realität: getriezt durch lobbyismus der pharmaindustrie ist man oft nur werkzeug zum verschreiben von medikamenten. patienten selbst haben auch relativ wenig interesse daran, den grund der erkrankung zu ergründen. viel mehr werden einfach nur stupide symptome behandelt. d.h. im alltag rezepte schreiben und krankenscheine ausstellen

alles in allem ist alles irgendwie mehr schein als sein, so zumindest mein eindruck. natürlich erwarte ich nicht, dass man immer spannende tätigkeiten hat, aber wie gesagt, das ganze ist schon irgendwie ernüchternd.

wie seht ihr das?

Willkommen in der Realität :)

1. Tipp: Operativer arbeiten, z.B. Abrechnung irgendwelcher Leistungen oder Sachbearbeiter für xyz. - Also all das, wofür sich der 0815-Absolvent zu fein ist.

2. Tipp: Familie gründen. Das erdet ganz schön um zu merken, was wirklich wichtig ist im Leben.

3. Tipp: Interessante Hobbies suchen. Nix mit "Ausgleich blabla", sondern was handfestes. Von mir aus Wachteln züchten oder Bier brauen.

Alles im allem etwas bodenständiger werden, ohne dabei die Ansprüche ins bodenlose zu senken. Diese Möchtegern-wichtig-business-international-Leben frisst uns sonst alle auf!

Vielleicht würdest du dich bei einem KMU wohler fühlen. Umso größer das Unternehmen umso standardisierter und spezialisierter die Prozesse. Bei KMUs musst du breiter und hemdsärmeliger, was dir vermutlich mehr Spaß macht.

Ich spar mir nun so abgetroschene Sprüche wie "Willkommen in der Realität!"... durch die extreme Arbeitsteilung werden die eigentlichen Berufe immer abstrakter bzw. wie du richtig erkannt hast - stiften sie keinen Sinn mehr.

Falls du eine Lösung für dieses Problem findest, gib mir Bescheid.

Ich für meinen Teil habe mich zumindest derart revanchiert, dass ich Arbeit nur noch ausschließlich als Mittel zum Zweck - zur Finanzierung/Gestaltung meiner Freizeit - ansehe. Zumindest dann erfüllt auch Arbeit noch einen zusätzlichen Zweck... erst durch Arbeit erfährt meine Freizeit einen Engpass und wird dadurch umso wichtiger und wertvoller für mich.

Stimme ich zu. Das ist auch für mich die einzige Möglichkeit, die mir eingefallen ist.

Lounge Gast schrieb:

Ich für meinen Teil habe mich zumindest derart revanchiert,
dass ich Arbeit nur noch ausschließlich als Mittel zum Zweck

• zur Finanzierung/Gestaltung meiner Freizeit - ansehe.
  Zumindest dann erfüllt auch Arbeit noch einen zusätzlichen
  Zweck... erst durch Arbeit erfährt meine Freizeit einen
  Engpass und wird dadurch umso wichtiger und wertvoller für
  mich.

Vorstellung und Realität weichen umso mehr voneinander ab, je weniger man sich vorher über den potentiellen Beruf informiert hat.

siehe zum Beispiel das Beispiel mit dem Arzt und noch besser, das Beispiel mit dem Polizist.

Also ehrlich gesagt, Big-4 Audit ist doch schon ein extrem spezifisches Berufsfeld. Kann mir gar nicht vorstellen, dass dort Realität und Erwartungen so sehr voneinander abweichen können. Oder anders gesagt, warum um alles in der Welt hast du erwartet, als Anfänger im Audit "Strategien mitentwickeln" oder überhaupt "spannende Projekte machen" zu können?

Was den Sinn angeht: Wie schon von einem Vorposter erwähnt, ist die Arbeitsteilung und Spezialisierung (auf der letztlich unser gesamter Entwicklungsstand beruht) gerade in intellektuellen Berufen so weit fortgeschritten, dass es dem einzelnen oft unmöglich ist, den direkten Nutzen seiner Arbeit zu erkennen. Aber selbstverständlich gibt es einen Nutzen (bis auf einige Ausnahmen), sonst würde das System über kurz oder lang dafür sorgen, dass die Tätigkeit in andere Bahnen gelenkt oder die Stelle wegrationalisiert wird.

Der Sinn ist, dass es gesetzliche Vorgaben gibt und die Bilanz attestiert werden muss. Würde das nicht notwendig sein, wäre Audit tot. Kein Unternehmen hat Lust, Geld für diese sinnlosen Prüfungen zu verbrennen

Lounge Gast schrieb:

Also ehrlich gesagt, Big-4 Audit ist doch schon ein extrem
spezifisches Berufsfeld. Kann mir gar nicht vorstellen, dass
dort Realität und Erwartungen so sehr voneinander abweichen
können. Oder anders gesagt, warum um alles in der Welt hast
du erwartet, als Anfänger im Audit "Strategien
mitentwickeln" oder überhaupt "spannende Projekte
machen" zu können?

Was den Sinn angeht: Wie schon von einem Vorposter erwähnt,
ist die Arbeitsteilung und Spezialisierung (auf der letztlich
unser gesamter Entwicklungsstand beruht) gerade in
intellektuellen Berufen so weit fortgeschritten, dass es dem
einzelnen oft unmöglich ist, den direkten Nutzen seiner
Arbeit zu erkennen. Aber selbstverständlich gibt es einen
Nutzen (bis auf einige Ausnahmen), sonst würde das System
über kurz oder lang dafür sorgen, dass die Tätigkeit in
andere Bahnen gelenkt oder die Stelle wegrationalisiert wird.

Wenn man BWL studiert, konzentriert sich der Stoff vor allem auf strategische / konzeptionelle Themen. Sonst bräuchte man ja auch gar kein Studium. Für den operativen Bereich würde eine Berufsfachschule reichen. Da in der Praxis aber nur die wenigsten AN strategisch / konzeptionell arbeiten, merkt man plötzlich, dass das Studium mit dem Berufsalltag gar nichts zu tun hat.

Und dann wecken die Big4 mit ihren Stellenanzeigen und dem Hochschul-Marketing eben auch Erwartungen, die dann nicht erfüllt werden. Die stellen das so dar, als wäre es das absolut tollste bei denen zu arbeiten. In Wirklichkeit sind das aber gerade am Anfang oft Tätigkeiten, wo auch eine Ausbildung locker reichen würde.